Prokon AG oder die Renaissance der Genossenschaft

Der Fall Prokon zeigt, dass die Genossenschaft als ursprünglich soziale Selbsthilfeeinrichtung des 19. Jahrhunderts die wohl modernste Antwort einer Bürgergesellschaft auf den Turbokapitalismus ist.

26.10.2015 – Die Prokon AG hat über 74.000 Anlegern ca. 1,4 Milliarden Euro in Form von Genussrechten verkauft. Den Investoren wurden bis zu acht Prozent Zinsen versprochen und in den vergangenen Jahren auch ausbezahlt. Das Problem: Prokon hat mit seinen Unternehmungen operativ diese Zinsen nicht verdient. Seit es mit den versprochenen Zahlungen eng wurde, ist der Insolvenzverwalter an Bord und hat in einer sehr fairen Weise den Initiatoren einer Genossenschaftslösung die Möglichkeit gegeben, ihr Modell gegen ein Kaufangebot der EnBW zur Abstimmung in der Gläubigerversammlung zu stellen. Diese hat entschieden, dass die Schulden – und damit vor allem die Genussscheine – in Anteile an einer Genossenschaft und nachrangige Finanzierungen, also faktisch in Eigenkapital, umgewandelt werden. Aus Gläubigern werden Genossen. Damit ist das Unternehmen wieder auf solide Beine gestellt. Es wird erwartet, dass die neuen Genossen so fast 60% ihrer Gelder langfristig retten können.

Aus der Insolvenz einer AG, die offensichtlich auf ein eher unglückliches Finanzgebaren und nicht auf das grundsätzlich tragfähige Geschäftsmodell zurückgeht, entsteht jetzt eine Genossenschaft. Aber was ist das genau? Der Namensbestandteil „Genossen“ lässt linke Strukturen vermuten. Das Geschäftsmodell der Prokon AG, nämlich Windkraft, verstärkt diesen ersten Eindruck. Dabei ist die Genossenschaft als ursprünglich soziales Modell der gemeinschaftlichen Selbstorganisation des 19. Jahrhunderts heute hochmodern und vielleicht der geniale Gegenentwurf zum Turbokapitalismus, dessen Instrument vor allem die Aktiengesellschaft ist.

Eine Genossenschaft ist zunächst, wie eine Aktiengesellschaft auch, eine juristische Person, das heißt in ihrem Namen können durch die im Tagesgeschäft verantwortlichen Vorstände Rechtsgeschäfte aller Art getätigt und Eigentum erworben werden. Die Haftung der Genossen ist ebenfalls auf die Einlageverpflichtung beschränkt. Ist diese geleistet, kann der Genosse wie der Aktionär gut schlafen.

Der Zweck einer Genossenschaft geht allerdings weit über den rein finanziellen Zweck einer Aktiengesellschaft hinaus. Die Genossen haben umfassendere, meist auch ideelle Ziele, wie die Unterstützung der Windenergie. Ihnen geht es nicht nur um den Gewinn, sondern auch um die Verfolgung eines darüber hinausgehenden gemeinsamen Zwecks, sei es aktiv durch eigenes Mitwirken, oder passiv durch reine Finanzierung. Insoweit gleicht die Genossenschaft einem Verein. Man könnte sie auch als „vereinsähnliche Aktiengesellschaft“ bezeichnen; organisiert wie ein Verein ohne „Kursgewinn“ beim Ausscheiden und finanziert wie eine Aktiengesellschaft mit Kapitalerhöhung und Dividende.

Allerdings, und hier besteht schon der erste entscheidende Unterschied zur Aktiengesellschaft, gibt es wie beim Verein keinen „Mehrheitsgenossen“. Zwar sind auch Personen als Mitglieder zulässig, die nur „investieren“, diese dürfen aber keine Mehrheit haben und sind auch sonst in ihren Stimmrechten stark beschränkt.

Jeder Genosse hat unabhängig von seinem finanziellen Beitrag in der Mitgliederversammlung, die über alle Angelegenheiten entscheidet, eine Stimme. Jeder soll wie bei einem Verein mitentscheiden, ob etwas Neues angeschafft, ein Haus verkauft, ein neues Feld hinzugepachtet wird. In besonders zu begründenden Fällen können es bis maximal drei Stimmen werden, die zum Schutz des „Kleingenossen“ bei wichtigen Fragen wieder auf eine Stimme reduziert werden. Mehr geht nicht. Selbst das Einsammeln von Vollmachten zur Stimmrechtsausübung ist auf maximal zwei beschränkt. Für besonders große Genossenschaften mit mehr als 1.500 Mitgliedern gibt es die Möglichkeit eng geregelter Vertreterversammlungen. Der Beitritt zur Genossenschaft allein aufgrund finanzieller Interessen ist anders als bei der Aktiengesellschaft daher grundsätzlich nicht vorgesehen. Eine Stimmrechtsmehrheit in einer Person ist unmöglich.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zur Aktiengesellschaft ist, dass der Genossenschaftsanteil nicht oder zumindest nur sehr schwer handelbar ist. Eine Börsennotierung ist nicht vorgesehen. Der Genosse kann austreten und erhält dann seine Einlage zurück, einen „Kursgewinn“ realisiert er nicht. Allenfalls kann er noch einen Anteil an den offenen, nicht ausgeschütteten Rücklagen erhalten. Aber auch das bedarf schon einer gesonderten Satzungsregelung. Die Genossenschaft ist ganz darauf angelegt, dem Genossen einen realen und aktuellen Vorteil zu verschaffen, der oft aus einem Sachwert besteht. Dies kann die günstige Mietwohnung, das kostenlose Bankkonto, der Schrebergarten oder eine preiswerte Versicherung sein, wie sie die genossenschaftsähnlichen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit anbieten. Jeder Nutzen, sei er eher ideell oder monetär, der es erforderlich macht, dass sich mehrere Gleichgesinnte zusammenfinden, eignet sich für eine Genossenschaft.

Im Unterschied zum eingetragen Verein ist eine Genossenschaft jedoch auch darauf angelegt, wie jedes Unternehmen Gewinne zu erzielen. Dieser ist zwingend an die Genossen auszuschütten. Jeder Genosse erhält dabei grundsätzlich den gleichen Betrag pro Euro Einlage. Anders als bei der Aktiengesellschaft kann dem „Kleingenossen“ sein Gewinnanteil durch Rücklagenbildung nur vorenthalten werden, wenn dies die Satzung ausdrücklich vorsieht.

Unterschiedliche Finanzierungsbeiträge der Genossen bei Gründung der Genossenschaft werden oftmals über höherverzinsliche, sogenannte partiarische Darlehen abgedeckt. Dabei erhält der Darlehensgeber bis zur vollständigen Rückzahlung seines Darlehens vorab einen dem Risiko angemessenen Gewinnanteil als Zins. Er zeichnet also nicht mehr Anteile, wie dies bei der Aktiengesellschaft der Fall wäre. Ist das Darlehen zurückgezahlt, reiht er sich in die Reihe der völlig gleichberechtigten Genossen ein. Mit dieser Konstruktion wird oftmals die Gründung einer Genossenschaft erleichtert, wenn es einen oder mehrere Sponsoren gibt. Nachfolgende Genossen müssen dann nur einen geringeren Beitrag leisten. Die „Anschubfinanzierung“ wird zurückgezahlt.

Die Vorteile der Genossenschaft für das Gemeinwesen liegen damit klar auf der Hand: Da es keine Kursgewinne zu erzielen gibt, existiert kein Börsenhandel, was der Finanzindustrie die Basis der Vermögensverschiebung entzieht. Da es nur um einen unmittelbarer Nutzen geht, kann keine Gewinnerwartungen der Zukunft oder gar ein Firmenwert gehandelt werden. Nur wer einen realen Nutzen aus der Genossenschaft hat, sei er finanziell oder ideell, kann den Vorteil hier und jetzt abschöpfen.

Die Stimmrechtsbeschränkung verhindert eine feindliche Übernahme gegen den Willen der Kleingenossen. Das Demokratieprinzip ist voll verwirklicht. Jede Genossenschaft ist daher wie ein sachbezogener, kleiner, demokratischer Staat, dessen Vorteile man genießt, solange man Mitglied ist, aus dem man allerdings auch austreten kann. Jeder leistet seinen Beitrag, jeder erhält seinen Nutzen, solange er seinen Beitrag leistet. Die Größe ist individuell auf den Bedarf und die Sinnhaftigkeit des Sachthemas einstellbar, und es gibt immer die Möglichkeit, jederzeit eine Sachfrage zur demokratischen Abstimmung zu stellen.

Ursprünglich eine Erfindung der sozialen Selbstverwaltung im 19. Jahrhunderts, ist das Genossenschaftsmodell heute ein modernes Konzept einer freien Bürgergesellschaft. Es sei noch erwähnt, dass die Modernisierung des Genossenschaftsrechts maßgeblich auf die Grünen in der letzten rot-grünen Koalition zurückgeht.

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