Was passieren muss

Bildungsexpertin Ursula Hellert (CJD Braunschweig) zur aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Durchlässigkeit der Schulsysteme 2012

Was passieren muss

(NL/7559255812) Auf einen Schulaufsteiger kommen in Deutschland mehr als zwei Absteiger. Dies geht aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zur Durchlässigkeit der Schulsysteme hervor.
Bildungsexpertin Ursula Hellert vom CJD Braunschweig hat die Situation analysiert und in acht Punkte zusammengefasst, was nun passieren muss.

Manch einem Bildungspolitiker hängen die Bildungsstudien inzwischen geradezu zum Hals heraus. Das kann man verstehen, weil es zu oft in den Medien darum geht, die Bundesländer gegeneinander zu werten. Und da ist beinahe jede Zahl recht.
Aber wenn man das lässt, und das sollten wirklich alle an Bildung Interessierten tun, dann sind diese Studien Gold wert. Gold wert, das ist nicht nur eine Metapher. Denn jenseits der Verbesserung für die Biographie des und der Einzelnen, die mit Gold nicht zu bezahlen ist, bringt jeder Schritt der Verbesserung eines Bildungssystems Reingewinn für die Gesellschaft, Reingewinn in harter Währung. Schlechte Bildung ist das teuerste.

Hinweise und Trends in Deutschland
Die neue Bertelsmann Studie gibt Hinweise. Denn tatsächlich können viele Fragen nicht mit der vorhandenen Datenlage bearbeitet werden, und die zu bearbeitenden Ergebnisse reichen zu Gesamtbeurteilungen nicht hin. Aber diese Hinweise verdichten sich mit vielen anderen, spätestens seit den frühesten PISA Ergebnissen, zu einem Trend. Der Trend in Deutschland ist immer noch: zu selektiv; zu wenige individuelle, aber systematische Förderung in Schulen; zu wenige Alternativen, um zu einem Abschluss mit Hochschulzugangsberechtigung zu kommen; keine gemeinsamen Standards unter den Bundesländern; keine Mindeststandards an Qualität für alle Schulen; kein systematisches Training für Lehrkräfte für professionelles Differenzieren und Fördern; kein gesellschaftlicher Konsens über den Respekt vor schulischer Bildung und ihren Notwendigkeiten (d.h. kein Konsens über die notwendige Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule).

Die deutschen Negativschlagzeilen:
* Deutschland hat 16 Bildungssysteme und nicht eines. Das macht es für Familien schwer. Das verhindert die Ausbildung objektiver Standards. Und es verhindert so etwas wie eine Best Practice-Kultur zur Entwicklung unserer Bildungssysteme.
* Deutschland glaubt immer noch, dass längere Schulzeiten und Abschulung (Wechsel in eine niedrige Schulform in einem gegliederten System) zu einer wirklich guten schulischen Bildung dazugehören.
* Viele Länder in Deutschland glauben immer noch, am Ende der vierten Klasse eine solide Prognose für die weitere schulische Laufbahn geben zu können.
* Sozial prekäre Verhältnisse und Migrationshintergrund sind die größten Hinderungsgründe für Erfolg in der Schule in Deutschland.
* Viel Geld wird ausgegeben, und oft für das Falsche. Z.B. wurde für das Jahr 2003/2004 ausgerechnet, dass ca. 1.2 Milliarden Euro ausgegeben werden, weil über 200.000 SchülerInnen eine Klasse wiederholten. Das macht umgerechnet 16.000 Lehrerstellen.

Was passieren muss:
1. Deutschland hat seine Unterschrift unter die Menschenrechtskonvention gesetzt, die auch allen SchülerInnen mit Behinderung den Weg ins normale Schulsystem möglich macht. Wir müssen (und das ist gut so!) die inklusive Schule umsetzen. Inklusive Schule und selektives Schulsystem das geht überhaupt nicht zusammen. Alle Anstrengungen müssen auf die Ausbildung wirklicher Differenzierung in einer Schule ausgerichtet sein. Abschulungen müssen aufhören.

2. Sitzenbleiben findet nicht mehr statt. Denn alle Forschungen belegen, dass längeres Verbleiben in der Schule überhaupt nicht zu besseren Leistungsniveaus führt. Die späte Einschulung oder die Wiederholung einer Klasse sind im Regelfall vielleicht nicht schädlich, aber sicher nicht nützlich. Das frei gewordene Geld (vgl. oben ca. 1,2 Milliarden) wird in Differenzierung und Förderung in der Schule ausgegeben.

3. Eine längere Schulzeit als die Regelschulzeit kann also nur in besonderen Fällen gestattet werden, z.B. bei längerer Krankheit. Für alle anderen ist die Regel, dass Schwierigkeiten in der Schule zu einem systematischen Förderplan führen, der für Schüler, Schule und Elternhäuser Pflicht ist und ab gearbeitet werden muss.

4. Über alle Bundesländer hinweg gilt die Verpflichtung: Jedes Kind in Deutschland wird zu einem Schulabschluss geführt. Allein diese allgemeine politische Regel würde zu dramatischen Veränderungen in der heutigen Schullandschaft führen. Wenn der Schulabschluss sozusagen gesetzliche Pflicht ist, müssten strukturelle Maßnahmen die Konsequenz sein, die z.B. Kinder mit Migrationshintergrund oder aus prekären Verhältnissen (oder oft beides) in die Bildung hineinholen.

5. In Deutschland, dessen größte und wichtigste Ressource die Kreativität und das hohe Bildungslevel aller sind, wird über die Finanzierung von Bildung zukünftig nicht mehr unter dem Titel Kosten- sondern ausschließlich unter dem Titel Investition gesprochen, die wirtschaftlich notwendig ist, um das Wohlergehen aller in Zukunft weiterhin zu sichern. Frieden gibt es nur mit wirtschaftlicher Sicherheit. Wirtschaftliche Sicherheit gibt es im 21. Jahrhundert in einer Gesellschaft und einem Land wie Deutschland ausschließlich mit Bildung.

6. Qualitätsmanagement in Schulen ist Pflicht, und zwar nach externen Standards. Dazu gehören u.a. auch regelmäßige Elternbefragungen. Veröffentlichung von Leistungs- wie Befragungsergebnissen ist selbstverständlich. Qualitätsmanagement ist die Voraussetzung zur Steuerung der schulinternen Prozesse und der entsprechenden Personalentwicklung. Systematische individuelle Förderung ohne transparentes und verbindliches Qualitätsmanagement ist unmöglich zu leisten.

7. Leistungsstandards sind Länder übergreifend. Alle Schulabschlüsse werden deshalb in allen Ländern anerkannt. Pädagogische Ausdifferenzierung ist vielfältig und erwünscht.

8. Zielvereinbarungen zwischen Elternhaus und Schule gehören immer zur Förderplanarbeit. Konkrete Pflichten werden für beide Seiten festgelegt und controllt.

Wir haben schon vielerorts gute Beispiele für Best Practice in diesen Themen. Das CJD Braunschweig ist einer dieser Orte. Wenn man sich klar macht, dass nur 75 bis 80% der Schulleistungen durch Intelligenz vorhersagbar sind, erkennt man die Bedeutung einer systematischen Förderplanarbeit. Schule muss heute ein Ort vernetzter interprofessioneller Arbeit sein. Lehrkräfte, Psychologische Fachkräfte und pädagogische Fachkräfte (ErzieherInnen, SozialpädagogInnen) arbeiten als professionelle Teams zur Entwicklung von Schülern und Schülerinnen. Und wer da über Kosten spricht, der sei auf das Kennedy-Zitat verwiesen: Nur eines ist teurer als Bildung: keine Bildung.

Ursula Hellert

Über CJD Braunschweig
Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands e.V., Braunschweig (CJD Braunschweig) ist seit 1977 eine staatlich anerkannte private Lehreinrichtung mit über 2000 Schülern aus 28 Nationen und beschäftigt 294 Mitarbeiter. Träger ist das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD). Mit seinen speziell entwickelten Bildungs- und Förderprogrammen nimmt das CJD Braunschweig eine bundesweit einzigartige Stellung ein. Zu den Einrichtungen gehören unter anderem ein Internat, das Gymnasium Christophorusschule, die Musische Akademie sowie die International School Braunschweig-Wolfsburg. Gemäß dem Leitsatz Keiner darf verloren gehen steht das CJD Braunschweig unter der Leitung von Bildungsexpertin Ursula Hellert seit 1977 für die differenzierte Begabungsförderung von Schülern und ist seit 1981 Pionier in der Hochbegabtenförderung in Deutschland. Viermal jährlich erscheint das Magazin denkbar anders (www.denkbaranders.de) des CJD Braunschweig in Zusammenarbeit mit dem CJD Salzgitter. Das Magazin enthält sowohl Denk- und Wissenswertes als auch Beiträge externer Autoren zu den Themen Bildung, Gesellschaft, Lebensqualität und Kultur. Mehr Informationen erhalten Sie unter www.cjd-braunschweig.de

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