Werkstattleitung geht in haitianische Hände

medi for help: Interview mit Ralf Jungblut

Werkstattleitung geht in haitianische Hände

Orthopädietechniker Alix Paul führt bei einem Patienten eine Schaftanprobe durch.

Nach dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 rief das Bayreuther Unternehmen medi das Hilfsprojekt medi for help ins Leben. Das Ziel: den Opfern des Bebens unbürokratisch vor Ort zu helfen und Bedürftige mit Beinprothesen zu versorgen. Heute umfasst das Versorgungsspektrum auch traumatologische und orthopädische Fälle. Bisher wurden 6.250 Patienten versorgt. Ralf Jungblut, Orthopädietechnikermeister und Werkstattleiter von medi for help, berichtet im Interview über seine Erfahrungen und den Alltag in Haiti.

Herr Jungblut, Sie sind seit über zwei Jahren in Haiti und unterstützen medi for help. Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere an diesem Projekt?

„Das Besondere in meinen Augen ist, dass medi for help die haitianische Bevölkerung seit dem Erdbeben in 2010 durchgehend unterstützt. Dies geschieht sowohl durch finanzielle Mittel als auch durch den kontinuierlichen Einsatz der europäischen Volontäre. Die Spenden stehen zu einhundert Prozent dem Projekt vor Ort zur Verfügung.“

Welche Herausforderungen gab es in dieser Zeit? Und wie wurden sie gelöst?

„Immer wieder kam es zu Verzögerungen bei den Materiallieferungen, sodass unser Arbeitsfluss ins Stocken geriet und wir improvisieren mussten, um Termine einzuhalten. Wenn dieser Fall eintrat, erstellten wir aus mehreren alten Prothesen eine neue. Eine Herausforderung waren auch Patienten mit komplizierten Versorgungen, zum Beispiel mit Amputationen der oberen Extremitäten, da medi hierfür keine Produkte anbietet. Wir haben daher Komponenten von Kinder-Prothesen an die Oberarm-Prothetik angepasst. Das funktionierte sehr gut und unsere Patienten sind überglücklich.“

Wie empfanden Sie die Zusammenarbeit mit den Volontären?

„Die Zusammenarbeit war sehr gut, da unsere Volontäre bisher immer einen hervorragenden Mix aus fachlicher Kompetenz und sozialem Engagement vorzuweisen hatten. Über die tägliche Patientenarbeit vor Ort hinaus gibt es bis heute regelmäßige, fast freundschaftliche Kontakte mit sämtlichen Mitarbeitern. Viele Volontäre kommen nach Haiti zurück und verbringen ihre Zeit mit den Patienten und der medi for help Stammbesetzung.“

Können Sie uns beschreiben, wie ein typischer Arbeitstag in Haiti für Sie abläuft?

„Unsere Werkstatt ist an das Albert-Schweitzer-Hospital in Deschapelles angegliedert. Der Arbeitstag beginnt dort um sieben Uhr mit dem ,Morning Report“. Die Mitarbeiter wie Ärzte, Krankengymnasten, Techniker und Volontäre besprechen, was am Vortag passiert ist, und gehen den Tagesplan durch. Schwierige Geburten, Messerstechereien und auch Verkehrsunfälle stehen regelmäßig auf der Tagesordnung.

Die ersten Patienten sind um neun Uhr in unserer Werkstatt, nachdem sie zuvor bei einem Arzt waren und sich ihre Papiere und Rezepte geholt haben. Dann werden sie von uns versorgt. Manche Patienten bleiben auch über Nacht oder sogar bis zu einer Woche auf dem Campus des Krankenhauses, zum Beispiel wenn sie eine prothetische Versorgung bekommen. So können wir die Prothese für sie anpassen und mit ihnen das Gehen üben.

Neue Patienten werden von uns evaluiert und wir füllen die Patientenmaßblätter aus. Anschließend erstellen wir einen Körpergipsabdruck. Das dauert bis zu einer Stunde. Andere Patienten kommen zum regelmäßigen Service-Check-up. Bis 17.00 Uhr ist unsere Werkstatt wochentags geöffnet.

Die Techniker, die zukünftige Werkstattleiterin Fabiola und ich fahren abwechselnd zu den ,mobilen Kliniken“ nach Gonaïves, Saint-Marc oder Mirebalais, die keine eigene Werkstatt haben. Dort versorgen wir Patienten im Außendienst. Das muss man sich in etwa so vorstellen, dass wir eine halbe Werkstatt im Auto haben – von Gipsbinden bis zum Werkzeug.“

Wie sieht die allgemeine und auch medizinische Versorgungsrealität in diesem Land aus? Welche Unterschiede gibt es zwischen dem ländlichen Raum und den Städten?

„Die größte Herausforderung in Haiti stellt der Umgang mit dem Müll dar. Da keine geregelte Müllentsorgung existiert, ist er überall. Organischer Müll und Plastikmüll werden auf offener Straße verbrannt. Gestank, schlechte Luft und flüchtige Kohlenwasserstoffe werden eingeatmet. Dadurch leiden die Menschen an Asthma und anderen bronchialen Erkrankungen. Außerdem verstopft der Müll die Wasserabläufe. Beim nächsten Regen laufen die Löcher voll Wasser, Moskitos laichen und kurze Zeit später erleben die Menschen eine neue Moskito-Invasion und Malaria-Epidemie.

Die medizinische Versorgungsrealität ist mit der unseren in Europa überhaupt nicht zu vergleichen. Es gibt dort einige Krankenhäuser, die meist von ausländischen Organisationen aufgebaut und unterstützt werden. Viele Patienten haben einen weiten Weg zum Arzt oder Krankenhaus, weshalb viele Beschwerden zu spät behandelt werden. In den ländlichen Gebieten gibt es keine niedergelassenen Arztpraxen. Sehr oft wohnen die Patienten in den Bergen und sind gezwungen, zu Fuß, mit Mopeds oder auf Tragen Kilometer zurückzulegen, um ins nächste Hospital zu gelangen.

Die einheimischen Ärzte werden in Haiti ausgebildet und haben die Möglichkeit, in den Krankenhäusern Praxiserfahrung zu erlangen. Wichtige Medikamente sind manchmal nicht verfügbar, dennoch können die häufigsten Beschwerden behandelt werden.“

Welcher Moment in Haiti war für Sie der emotionalste und ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

„Es gab viele schöne und auch ergreifende Momente in Haiti. Der Tod der Schwester unseres Technikers Alix Paul hat mich persönlich sehr getroffen. Wir haben sie oft zur Behandlung in die Uniklinik nach Mirebalais mitgenommen. Ich habe die speziellen Medikamente in der Hauptstadt eingekauft, aber leider erlag Alix´ Schwester ihrer Erkrankung.

Ein schönes Erlebnis war hingegen der letzte Besuch meiner Lebensgefährtin Iwona, da das Team der Werkstatt überraschend eine haitianische Party für uns alle ausrichtete. Unsere beiden Damen, Fabiola und Roseline, haben mit Hilfe ihrer Schwestern gekocht. Als dann Roseline auf Kreolisch und Fabiola auf Englisch ein Dankeschön an uns ausgesprochen haben, wurden die Augen doch vor Rührung feucht.“

Durch den Hurrikan „Matthew“ kamen im Oktober 2016 eintausend Menschen in Haiti ums Leben. Zudem richtete er immense Schäden an. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

„Da dieser tropische Wirbelsturm über den Südwesten der Insel herzog, haben wir sowohl in Port-au-Prince als auch in Deschapelles physisch nichts davon mitbekommen. Unser Team und das Albert-Schweitzer-Hospital wollten helfen und Wasser in die betroffenen Gebiete liefern. Leider war das aufgrund der beschädigten Straßen nicht umsetzbar. Auffällig war, dass bei uns vor Ort für zwei Wochen die Marktpreise für Obst und Gemüse aufgrund des Hurrikans erhöht wurden.“

Hat sich diese Naturkatastrophe dennoch auf das Projekt medi for help ausgewirkt?

„Nein, wir haben keine Auswirkungen zu diesem Ereignis verspürt. Das Albert-Schweitzer-Hospital hatte sich zwar vorbereitet, aber es kamen keine Patienten aus der betroffenen Region zu uns in Behandlung.“

In 2017 geht die Werkstattleitung erstmals in haitianische Hände über. Was bedeutet dieser Meilenstein für das Projekt?

„Das ist eine wirklich tolle Chance für das gesamte Team und das Albert-Schweitzer-Hospital. Wir geben die Werkstattleitung nicht ab, um uns aus dem Projekt zurückzuziehen, sondern wir tun alles dafür, dass sich die Haitianer dauerhaft selbst helfen können. Das geht nur, wenn sie die Verantwortung übernehmen – für das Budget, das Material, die regelmäßige Patientenversorgung. Mit Fabiola wird es eine Werkstattleiterin und ausgebildete Orthopädietechnikerin geben, die unser Projekt zielstrebig vorantreiben wird.“

Wenn Sie auf Ihre Zeit in Haiti zurückblicken, auf welche Ergebnisse sind Sie besonders stolz?

„Zum Beispiel bin ich stolz darauf, dass wir eine wöchentliche und somit regelmäßige Patientenversorgung in den drei mobilen Kliniken implementiert haben. Darüber hinaus freue ich mich sehr, dass wir mit Fabiola eine kompetente und engagierte Nachfolgerin für die Werkstattleitung gefunden haben. Und auch das von mir angestoßene Hippotherapie-Programm für behinderte Kinder am Kinderkrankenhaus Saint Vincent in Port-au-Prince gehört zu den besonderen Ereignissen, auf die ich stolz bin. Bei diesem Programm reiten behinderte Kinder auf Pferden. Diese Therapie soll ihre Lebensfreude aktivieren, ihr Selbstbewusstsein stärken und den Gleichgewichtssinn schulen.“

Was gefällt Ihnen besonders an Haiti, den Menschen und dem Leben in diesem Land?

„Die Gastfreundschaft und die Lebensfreude, die trotz vieler Einschränkungen und persönlicher Rückschläge immer vorhanden sind. Die Menschen lassen sich nicht so leicht unterkriegen, haben selten schlechte Laune und lösen viele Probleme mit einem Lächeln. Diese Herzlichkeit ist geradezu ansteckend.“

Was wäre Ihr Wunsch für Haiti?

„Ich wünsche mir, dass unser Projekt nach der Übergabe in haitianische Hände weiterhin erfolgreich bestehen bleibt und sich weiterentwickelt. Für Haiti hoffe ich, dass die komplette Bandbreite der Infrastruktur verbessert, das Müllproblem angegangen und die Korruption bekämpft wird. Außerdem sollten die Haitianer lernen, ihre natürlichen Schätze zu nutzen, anstatt alles zu hohen Preisen zu importieren. Das fängt bei den Milchprodukten an, die nirgendwo frisch erhältlich sind, nicht einmal auf dem Markt.“

Herr Jungblut, wir bedanken uns für das Gespräch.

medi – ich fühl mich besser. Das Unternehmen medi ist mit Produkten und Versorgungskonzepten einer der führenden Hersteller medizinischer Hilfsmittel. Weltweit leisten rund 2.400 Mitarbeiter einen maßgeblichen Beitrag, dass Menschen sich besser fühlen. Die Leistungspalette umfasst medizinische Kompressionsstrümpfe, adaptive Kompressionsversorgungen, Bandagen, Orthesen, Thromboseprophylaxestrümpfe, Kompressionsbekleidung und Schuh-Einlagen. Darüber hinaus fließen mehr als 65 Jahre Erfahrung im Bereich der Kompressionstechnologie in die Entwicklung von Sport- und Fashion-Produkten der Marken CEP und ITEM m6. Das Unternehmen liefert mit einem weltweiten Netzwerk aus Distributeuren und eigenen Niederlassungen in über 90 Länder der Welt.

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