Jedes Kind ist anders und einzigartig

Nachruf zu Remo Largo, Kinderarzt und Autor

Wie entwickeln sich Kinder

Remo Largo sagt von sich, dass ihn die Frage „Wie entwickeln sich Kinder?“ sein Leben lang beschäftigt habe. Diese Frage wurde zum Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung und Umsetzung der Züricher Longitudinalstudien. Diese Studien sind das Markenzeichen Remo Largos geworden – sie haben ihn berühmt gemacht, zunächst in der wissenschaftlichen Welt, später auch weit darüber hinaus. Bei mehr als 900 Kindern haben Remo Largo und sein Team die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter hinein nach definierten Kriterien dokumentiert. Erfasst wurden alle wichtigen Entwicklungsbereiche – wie Sprache, Motorik, Wachstum, Kontrolle der Ausscheidungsfunktionen, Sozialverhalten. Diese Daten hat Remo Largo zusammen mit seinen Mitarbeitern in den 30 Jahren seiner Tätigkeit an der Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Universitäts-Kinderspital Zürich erfasst, gesammelt und kontinuierlich ausgewertet. Entstanden sind hieraus mehr als hundert wissenschaftliche Publikationen und ab 1993 mehrere Bücher (wie „Babyjahre“, „Kinderjahre“). Allein „Babyjahre“ wurde über eine Million Mal verkauft.

Remo Largo wollte eigentlich Kinderchirurg werden. Eine schwere Erkrankung, die mit einer teilweisen Lähmung und einem Verlust der Hörfähigkeit auf dem rechten Ohr einherging, vereitelte diesen Berufswunsch und eröffnete zugleich den Weg in die Erforschung der kindlichen Entwicklung.

Meilensteine der Entwicklung

Mit den Daten der Züricher Longitudinalstudien konnte Remo Largo nachweisen, dass die Entwicklung bei jedem Kind in einer genetisch vorgegebenen Reihenfolge erfolgt. Remo Largo spricht von „Meilensteinen der Entwicklung“. So kommt das Erlernen des Sitzens immer vor dem Erlernen des Laufens. Individuell sehr unterschiedlich ist aber, in welchem Monat ein Kind mit dem Laufen beginnt (der Zeitpunkt), und ob das Kind eher verhalten oder mit Begeisterung läuft (die Ausprägung dieses Merkmals). Remo Largo dokumentierte zudem, dass der Normalbereich der Entwicklung in vielen Sektoren breit ist: So sind manche Kinder schon im Alter von zwei Jahren tagsüber trocken, andere erst mit fünf oder sechs Jahren. Und er zeigte, dass sich gleichaltrige Kinder nicht nur innerhalb eines Entwicklungsbereichs (beispielsweise in der Sprachentwicklung oder im Wachstum) erheblich voneinander unterscheiden können, sondern dass auch das einzelne Kind über die verschiedenen Entwicklungsbereiche hinweg meist nicht gleich begabt ist. Jedes Kind hat seine spezifischen Stärken (z.B. im Umgang mit der Sprache) und Schwächen (z.B. in der Motorik). Jedes Kind ist anders.

Das Fit-Prinzip

Auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen und klinischen Erfahrungen entwickelte Remo Largo das Fit-Prinzip. Er zeigte, dass dieses Prinzip sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gültig ist. „… das Fit-Prinzip gilt fürs Bakterium ebenso wie für den Menschen. Jedes Lebewesen ist ein Unikat und versucht, eine möglichst hohe Übereinstimmung mit seiner Umwelt zu finden.“

Für Remo Largo war deshalb klar, dass Eltern und pädagogische Fachleute in Krippe, Kita und Schule der Individualität von Kindern nur dann gerecht werden können, wenn sie von deren Grundbedürfnissen (wie dem Bedürfnis nach Geborgenheit) ebenso wie von ihren individuellen Kompetenzen (sprachlich, motorisch, sozial etc.) wissen. Und in einem nächsten Schritt, auf diesem Wissen aufbauend, dafür sorgen, dass es zu einer guten Passung zwischen diesen Grundbedürfnissen, den Kompetenzen des individuellen Kindes und dem Umfeld in Familie, Krippe, Kita, Schule kommt. Remo Largo war davon überzeugt, dass sich Kinder immer dann gut entwickeln, wenn sie sich in vertrauter Beziehung befinden (ihrem Bedürfnis nach Geborgenheit entsprechend) und wenn sie mit ihren individuellen Kompetenzen „gesehen“ und diesbezüglich weder unterfordert noch überfordert werden.

Inspiration für Eltern

Zu den besonderen Verdiensten von Remo LargoL gehört, dass er sich der Herausforderung gestellt hat, die komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Entwicklung von Kindern so aufzubereiten, dass sie für Eltern verständlich und nachvollziehbar sind. Die Tatsache, dass viele seiner Bücher zu Bestsellern geworden sind, zeigt, dass ihm dies glänzend gelungen ist.

Viele Eltern haben sich von Remo Largo und seiner Sicht auf Kinder inspirieren lassen; sie haben sich einladen lassen, die Entwicklung ihrer Kinder mit Gelassenheit zu begleiten – orientiert an dem jeweiligen Entwicklungstempo und Begabungsprofil. Remo Largo wollte Eltern nicht belehren, ihnen keine Ratschläge geben. Ihm lag daran, Eltern „kompetent und selbständig“ zu machen.

Engagement für eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft
Mit großer Dringlichkeit setzte sich Remo Largo seit vielen Jahren dafür ein, das Umfeld von Kindern (in Familie, Krippe, Kita, Schule) so zu gestalten, dass es zu den seelischen Grundbedürfnissen von Kindern und zu ihrer einmaligen Person passt, um eine gesunde Entwicklung jedes einzelnen Kindes zu ermöglichen. Ausführlich behandelt Remo Largo diese Thematik in dem Buch „Das passende Leben“. Er betrachtete viele der Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft mit großer Sorge und Skepsis und engagierte sich für eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft – für eine andere Wirtschaft, eine andere Bildung, andere Formen des Zusammenlebens. So warb er dafür, das Bildungswesen grundlegend zu erneuern und Schulen – unter Beachtung der genannten Prinzipien – „kindgerecht“ zu gestalten. Hoffnungsträger für diesen Veränderungsprozess war für Remo Largo die junge Generation: „Wenn wir in unserer Gesellschaft etwas ändern wollen, müssen wir bei den Kindern anfangen.“

Mit seinen klinischen und wissenschaftlichen Arbeiten hat RL das Wissen zur Frage „Wie entwickeln sich Kinder?“ auf eine ganz neue Grundlage gestellt. Doch das war ihm nicht genug. Ihm lag daran, diese Erkenntnisse an junge Eltern weiterzugeben, sie zu „übersetzen“ und mit ihnen zu teilen. So wurde aus dem Kinderarzt auch ein Bestsellerautor.

Das passende Leben

In einem Interview von 2017 beantwortet RL die Frage „Haben Sie selbst das für Sie passende Leben gefunden?“ mit: „Im Großen und Ganzen schon.“ Und auf die Frage „Wie haben Sie das erreicht?“ ist seine Antwort: „Gnädiges Schicksal und Glück.“

In der Traueranzeige der Familie wird RL so beschrieben: Ein wahrer Humanist – menschlich, fürsorglich, warmherzig, mitfühlend, feinfühlig, achtsam, sanft, kümmernd, hilfsbereit, tröstend, präsent, wach, offen, wissend, interessiert, wissensdurstig, engagiert, beharrlich, inspirierend, begeisterungsfähig, umsichtig, humorvoll, zuvorkommend, geduldig, verzeihend, beratend, demütig und bis zum Ende würdevoll.

Diesen Nachruf reichte uns Prof. Dr. med. Hannsjörg Bachmann mit der Erlaubnis der freundlichen Verwendung ein.

Die Stiftung Zu-Wendung für Kinder wirkt daran mit, dass die Voraussetzung für eine optimale Entfaltung aller kindlichen Potentiale als wichtigste Verantwortung von Eltern – und Gesellschaft – verstanden wird und unsere Gesellschaft die altersentsprechenden Bedürfnisse der Kinder in ihren Mittelpunkt stellt und in ihrem Handeln angemessen berücksichtigt.

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