Projekt Neue Nachbarschaft: Interview mit Matthias Drilling

„Gute Nachbarschaft erkennt man daran, dass sich die Nachbarn kennen und vertrauen.“

Die sozialen Aufgaben vor Ort wachsen, während die dafür zur Verfügung stehenden Mittel immer weiter schrumpfen. Immer mehr Bürger sehen, dass sie selbst aktiv werden müssen, damit ihre Probleme gelöst werden. Fachleute richten ihren Blick auf diese Eigeninitiativen der Bürger in den Stadtvierteln. Hier sehen die Experten u.a. einen wichtigen Impuls für eine nachhaltige Entwicklung der Städte. Prof. Dr. Matthias Drilling, Leiter des Instituts für Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule Basel beobachtet und analysiert seit Jahren solche Aktivitäten.

Herr Prof. Drilling, Sie sprechen von „nachhaltigen Quartieren“. Was genau meinen Sie damit?

In Analogie zum Ursprungsgedanken aus der Forstwirtschaft zielt nachhaltige Quartiersentwicklung auf einen Prozess ab, der sich langfristig trägt, positiv für die Menschen ist und dabei die Umwelt nicht schädigt. Übersetzt wurde das in den letzten Jahren mit den Zielen der sozialen Gerechtigkeit, ökologischen Stabilität und der Wirtschaftlichkeit.
Zum Beispiel sollen Quartiere viele Nutzungen wie etwa Arbeitsplätze, Freizeit- und Bildungseinrichtungen oder soziale Infrastruktur ermöglichen. Die Wege zwischen Wohnen, Arbeiten etc. sind kurz und zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Verkehr bewältigt werden, auch, um den Beitrag zum CO2-Ausstoß zu verringern.

Wie können wir als Bürger diese soziale Nachhaltigkeit positiv beeinflussen?

Soziale Nachhaltigkeit hat viel mit dem Zusammenleben zu tun. Insofern kann jede Bürgerin und jeder Bürger hier einen positiven Beitrag leisten. Die Nachbarschaft hat dabei hohe Bedeutung, denn Nachbarn reden im Alltag miteinander, sie helfen sich und lernen voneinander. Das fängt beim spontanen Aufpassen auf das Kind des Nachbarn an, reicht über die Gespräche über Mülltrennung und gesundes Essen und endet beim gemeinsamen Nachbarschaftsfest. Das alles sind Orte der Erfahrung und des Lernens, hier werden Ängste und Vorurteile abgebaut.
Wo Menschen wertgeschätzt werden und Kontakte zueinander haben, wohnt man gerne und übernimmt Verantwortung füreinander. In solchen Nachbarschaften werden Nachbarschaftshilfen und Quartierläden gegründet. Arbeitgeber stellen Jugendliche auch an, wenn sie keine guten Zeugnisse haben. Als Planer versuchen wir mit der Immobilienwirtschaft Bedingungen zu planen, die für einen solchen Austausch förderlich sind. Gemeinschaftsräume und Erdgeschossnutzungen gehören hier ebenso dazu wie Platzgestaltungen oder Netze von Schleichwegen für Kinder.

Wie definieren Sie Nachbarschaft? Was macht eine „gute“ aus?

Die Forschung hat versucht zu zeigen, dass gute Nachbarschaften solche sind, in denen die Menschen sich mit Namen oder zumindest vom Sehen her kennen, wo man bereit ist, einen anderen Menschen in seine Wohnung zu lassen. Dabei hängt die Qualität der Beziehungen keineswegs von der Bauform ab. Auch in Hochhäusern gibt es gute Nachbarschaften und auch in Einfamilienhausquartieren kommt es zu Anonymität und Desinteresse. Deshalb spielen Aktivitäten auch eine so große Rolle: Hier finden Menschen zusammen, die sich sonst nie sehen würden. Wenn man „gute“ Nachbarschaften initiieren möchte dauert das zumeist mehrere Jahre.

Kommunen werden durch immer neue Soziallasten an den Rand der Handlungsfähigkeit getrieben. Ist dies der Grund für das Entstehen bürgerschaftlicher Initiativen?

Menschen sind immer am Eigennutzen und am sozialen Nutzen orien-tiert, d.h. ich setze mich grundsätzlich für mich selbst und für andere ein, wobei das andere auch der Naturschutz oder die Umwelt sein kann. Nicht selten schätzen die Politiker die bürgerschaftlichen Initiativen nicht genug wert, um sie zu unterstützen. Sie geben das Geld lieber für anderes aus. Kritiker sprechen dann vom Gesundsparen der Kommunen auf Kosten der Menschen. Interessant sind Modelle, wo Soziallasten mit Initiativen aus der Bürgerschaft gekoppelt werden , wo also Investitionen in Engagements gelenkt werden, die nachhaltig sind, weil sie Strukturen schaffen, die dem Einzelnen, der in eine schwierige Lebenslage geraten ist, Chancen eröffnen.

Welchen Stellenwert haben diese Initiativen in der heutigen Gesellschaft?

Mit dem weitgehenden Rückzug des Staates aus allem, was sich selbst finanzieren oder tragen kann, werden diese Initiativen immer wichtiger. Sie geben Menschen Sinn, eine Identität und eine Identifikation. Dieser Sinn ist alltagsnah, unmittelbar und interkulturell. Gerade wo es Initiativen gelingt, Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft miteinander in Beziehung zu setzen, leisten sie Wesentliches zum Zusammenleben auf der Mikroebene und sind daher von unermesslichem demokratischen Wert.

Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptunterschiede zwischen Projekten bürgerschaftlicher Initiativen und Projekten der Kommunen?

Bürgerschaftliche Initiativen sind direkt und flach hierarchisch, weil sie von denjenigen entwickelt und umgesetzt werden, die ihren Bedarf auch äußern. Projektstrukturen spielen in der Anfangsphase meistens keine Rolle und werden erst nach ersten Aktivitäten entwickelt. Projekte der Kommunen sind von Beginn an im Sinne des Projektmanagements angelegt, d.h. die Funktionen und Personen sind definiert und um die Mittelvergabe zu kontrollieren gibt es ein entsprechendes Controlling; das für bürgerschaftliche Initiativen typische „trial and error“, das „Entwickeln im Prozess“ und das „learning by doing“ wird bei Projekten der Kommunen über Fachzuständigkeiten zu minimieren versucht.

Gibt es eine Initiative oder ein bürgerschaftliches Projekt, das für Sie vorbildlich ist – und warum?

Jede Initiative, die sich „veröffentlicht“, ist für mich Ausdruck des Wil-lens, Verantwortung für das Gemeinsame in einer Gesellschaft zu übernehmen. Ganz egal, ob das von einer oder dutzenden Personen initiiert wird. Der entscheidende Schritt ist es, von unseren knappen Ressourcen Zeit und Engagement etwas für den sozialen Zweck zur Verfügung zu stellen. Solche Menschen verdienen meine Hochachtung, auch wenn ihre Idee vielleicht völlig abwegig und unrealisierbar ist. Das heißt ja nur, dass wir sie mit unserem pragmatischen Weg im Moment nicht einordnen können.

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Noch bis zum 31.Dezember läuft eine bundesweite Aktion zum Thema Neue Nachbarschaft. Gesucht werden Initiativen, bei denen die Bürger vor Ort selbst aktiv werden, um Probleme in ihrem Stadtteil zu lösen. Insgesamt ist ein Preisgeld von 100.000 Euro ausgeschrieben. Weitere Informationen findet man unter: www.neue-nachbarschaft.de

Die Montag Stiftung Urbane Räume konzentriert sich auf Projekte und Programme, die das Zusammenleben in Nachbarschaften und Quartieren verbessern und nutzt vor allem die Möglichkeiten, die Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur den Menschen eröffnen können. Sie unterstützt Aktivitäten, die darauf abzielen, am Gemeinwohl orientiertes und eigenverantwortliches Handeln in Nachbarschaften, Dörfern, Städten und Regionen zu stärken. Ihre Partner kommen aus der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Hand und Unternehmen.

Die Montag Stiftungen wurden gegründet durch den Stifter Carl Richard Montag. Weitere Informationen unter www.montag-stiftungen.de.

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